Ein neuer Pastor

Neuer Pastor in Dionys-Lehe: Dietmar Meyer, 51, seit 16.12.2020 in der Alten Kirche. Verheiratet, 3 Kinder (19,17,15). Vorher sieben Jahre Gemeindepastor in Sottrum, davor zehn Jahre Schulpastor (in Aurich und in Schelklingen bei Ulm). Radfahren, singen, Gitarre, Klavier, Zelten, Bierbrauen findet er gut. Lieblingsbuch: Oskar und die Dame in Rosa

Herr Meyer, warum Bremerhaven?
Es gibt einen Strauß von Gründen. Ich nenne die wichtigsten: Wir sind unseren zwei jüngeren Kindern nachgezogen, die seit diesem Schuljahr ins Basketballinternat der Eisbären Bremerhaven  gezogen sind. Aber meine Frau und ich hatte auch das Reisefieber gepackt. Wir wünschten uns noch einmal Veränderung. Dann kam im Sommer die Stellenausschreibung in Bremerhaven wie ein Wink des Himmels. Reizvolle Stelle. Reizvolle Stadt. Und schöne Erinnerungen an Bremerhaven. Hier, in der Johanneskirche, habe ich mein Vikariat absolvieren können und in Bremerhaven ist auch unser erstes Kind geboren.

War es doof in ihrer vorigen Gemeinde?
Nee, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Es waren großartige intensive Jahre dort und sie wurden jedes Jahr großartiger. Nun war ein Höhepunkt erreicht. Ein Sprichwort sagt ja: Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Ich glaube, da ist was dran, jedenfalls für mich. Ich habe in Sottrum alles gegeben, was mir möglich war, und ich sehr sehr viel zurückbekommen. Als ich gegangen bin hatte ich auch den Eindruck, dass meine Arbeit dort getan ist. Die Freundschaften bleiben.

Man will doch mal irgendwo ankommen, oder Sie nicht?
Ich bin ein Reisender. Pastoren sind das oft. Ich halte es auch für Trugbild, wenn man meint, man könne irgendwo ankommen. Alles verändert sich, selbst wenn man sesshaft wird. Sesshaftigkeit bedeutet nicht „Ankommen“ sondern eher Treue.

Sie waren Ihrer alten Gemeinde also nicht treu?
Naja, wenn man wechselt, weil man meint, dass sei nun dran, ist das mit der Treue in der Tat ein Problem. Aber ich muss auch auf meine innere Stimme hören, mir selbst treu sein. Und Veränderung gehört eben zu mir. Biblisch finde ich mich in dem Ruf Gottes „Brich auf!“ wieder. Dieser Ruf Gottes kommt oft vor. Vielleicht auch in Form einer inneren Veränderungslust und Unruhe.

Worauf muss man sich einstellen mit Ihnen als Pastor hier in der Gemeinde?
Das wird sich zeigen. Ich habe mich nicht verändert, um dann hier alles genauso zu machen, wie vorher und alles zu wiederholen, was mal gut war. Der Versuch, etwas zu wiederholen scheitert sowie. Warum es dann versuchen?  Man wird sich darauf einstellen müssen, dass ich nichts vorglaube und meine man solle mir nachglauben. Ich liebe Gespräche. Die gemeinsame Suche, das gemeinsame Ringen. Ich denke selten etwas zu ende, sondern sehe meine Gedanken als Anregung zum Mit- und Weiterdenken. Zudem bin ich davon überzeugt, dass es die beste Seelsorge ist, wenn man sich verstanden fühlt, besser verstanden vielleicht, als man sich selbst verstehen kann. Das habe ich übernommen von Jürgen Fliege, bei dem ich in der Fernsehredaktion gearbeitet hatte.

Zuhören und verstehen – Worauf noch?
Auf Musik, Gitarre, Lachen, ungewöhnliche Ideen. Konstantin Wecker hat ein Gedicht von Lothar Zenetti vertont, „Was keiner wagt“ heißt das. Wer dieses Gedicht liest oder das Lied hört, erfährt auch viel von dem, was mir wichtig ist. Für mich gibt es einen großen Unterschied zwischen „richtig“ und „gut“ – das können Gegensätze sein! Wenn etwas gut ist, ist es meist nicht das Erwartete.

Sie sind mit einer halben Stelle in Dionys-Lehe und mit einer halben Stelle in der Region. Familien sollen im Mittelpunkt Ihres Dienstes hier stehen.
Ja, das klingt reizvoll. In der Nordseezeitung stand dazu ja auch schon was. Familien sind für mich Kinder, Väter, Mütter, Omas, Opas, einzeln oder zusammen. Es geht ja um zweierlei: Zum einen darum für Familien da zu sein, so gut ich das eben kann, zum anderen aber auch darum, dass Familien ja für das Leben in der Gemeinde fundamental sind. Das Familien und Kirche zusammenfinden, so verstehe ich meine Aufgabe erstmal. Wenn es gelingt, dass sich Eltern mit ihren Kindern wohl fühlen in der Kirche und in den Gottesdiensten, wäre schon was erreicht. Für mich sind alle Gottesdienste Familiengottesdienste. In anderen Teilen der Welt ist das normal. Ja, und ich hatte immer viel übrig für Erlebnisse: Fahrten, Freizeiten, Lagerfeuer, Zeltlager. So bin ich geprägt. Mal sehen, was davon für meinen Dienst hier auch passt. Ich hoffe aber auch auf ganz neue Ideen und Erfahrungen.

Wo liegen Ihre kirchlichen Wurzeln?
Ich bin ein Zeltlager-Jungschar-Freizeit-Jugendgruppen-(Posaunen- und Jugend)Chor-Geprägter. Gottesdienste waren immer auch Jugendtreffpunkt.  Zum anderen liegen meine kirchlichen Wurzeln auch im Elternhaus. Ich kann ganz viele Gesangbuchlieder auswendig , da meine Mutter sie uns Kindern ständig und schön vorgesungen hat. Meine Bibelkunde habe ich u.a. aus der Kinderbibel, vom Vorlesen und Angucken.
Neuen Wachstumsschub haben meine Wurzeln im Zivildienst als „männliche Gemeindeschwester“ bekommen, vor allem auch in der Begründung für meinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Und ganz prägend die Zeit nach dem Studium in der Fernsehredaktion der Talkshow „Fliege“.

Was war daran so prägend?
Ich war dort hauptsächlich zuständig für die Zuschauerpost und die Anrufe der Zuschauer. Unzählige Menschen schrieben oder erzählten ihre Geschichte und hofften darauf, dass sie gehört werden. Seelsorge kam im Studium zwar vor, hier habe ich etwas ganz Neues gelernt: Seelsorge bedeutet, sich verstanden zu fühlen. Es geht weder um Lösungen noch um Ratschläge, sondern ums Gehört- und Verstanden werden. Vermutlich sind die zahllosen Selbstdarstellungen und Bilderposts in den sozialen Netzwerken ein Ausdruck dieses Bedürfnisses „Sieh mich! Versteh mich!“

Was bedeutet das für ihren kirchlichen Dienst?
Ich habe mich komplett verabschiedet von der Auffassung, Kirche müsste den Leuten etwas bringen oder beibringen. Luthers „den Menschen auf`s Maul schauen“ darf man nicht nur so verstehen, dass man verständlich spricht. Vor allem bedeutet es für die Kirche, nicht in erster Linie eine Botschaft rauszuposaunen, sondern die Botschaft des Gegenübers zu hören. Auf`s Maul schauen bedeutet genau hinhören. Verstehen, was jemand sagt und erkennen, was hinter den Worten steht. Lukas 5,1-11, der „Fischzug des Petrus“, beinhaltet für mich eine Art kirchliches Grundsatzprogramm. Jesus geht ja nicht zu Petrus und bringt ihm ein neues Boot: „Hey Petrus, nimm das hier, das ist viel besser als deins“  – das sagt er ja nicht! Sondern er geht zu Petrus und sagt ihm: „Ich brauche dein Boot. Fahr mich damit auf`s Wasser.“  Und dabei merkt Petrus, dass sein Boot zu mehr taugt als er dachte, sogar dafür, auf`s tiefe Wasser hinauszufahren. Das Boot ist in dieser Geschichte ein Bild für Petrus selbst, für sein Leben, mit allem, was es ausmacht.

Sie schreiben sich für Ihre Predigten nie etwas auf. Warum?
Das hat mit meiner Unfähigkeit zu tun, Worte zu finden, die ich selbst ertragen kann. Ich konnte es schon im Vikariat nicht aushalten, die Worte zu lesen, die ich aufgeschrieben hatte. Sie erschienen mir fade, langweilig, unausgereift, naseweis.  Ich bin damals regelmäßig verzweifelt an der Aufgabe, eine Predigt zu schreiben. Zum Glück rief mich ein Freund regelmäßig an. Er hatte ein Gespür dafür, wann ich mal wieder feststeckte. „Wenn dich dein Schreibtisch zum Abfall verführt, hacke ihn klein, und wirf ihn ins Feuer!“ sagte er einmal. Jesus sagt so etwas Ähnliches in der Bergpredigt. Das habe ich dann gemacht. Predigtvorbereitung nie wieder am Schreibtisch! Das war eine Befreiung. Es braucht natürlich Mut und Vertrauen, wenn man ohne Manuskript vor die Gemeinde tritt. Dieses Vertrauen hat sich hundertfach gelohnt.

Haben Sie keine Angst, dass Ihnen mal nichts einfällt?
Wenn mir nichts einfallen sollte, dann wäre es durch Aufschreiben auch nicht besser geworden. Wenn man nichts zu sagen hat, muss man besser schweigen oder singen. Aber: Wer sich intensiv vorbereitet, leer wird um sich füllen zu lassen und sich auf das Wagnis einlässt „muss keine Angst haben, dass er verstummt“ schreibt Manfred Josuttis, der „Star“ unter den Göttinger Theologie-Professoren der 70er und 80er Jahre. Ich habe ihm aus der Not heraus einfach mal geglaubt. Recht hat er.  Aus irgendeinem Grund gelingt es mir aber, Predigten für Trauerfeiern und Hochzeiten so aufzuschreiben, dass ich damit einverstanden bin.

Ihr ehemaliger Chef, Jürgen Fliege, spricht auch immer frei. Hatte das auch einen Einfluss?
Später, als ich nicht mehr in seiner Redaktion war, hat er mir sein prägendes Erlebnisse erzählt, ich glaube ich darf es weitersagen: Ein amerikanischer Pastor war in seiner Gemeinde zu Besuch und fragte ihn, Fliege, was er denn gleich im Gottesdienst predigen wolle. „Da hab ich mein Manuskript gesucht und wollte gucken, was ich gleich sagen wollte.“ Daraufhin bittet der amerikanische Gast um das Manuskript. Als er es in der Hand hält,  zerfetzt er es, wirft die Fetzen in den Müll und sagt: „We in Amerika are used to say it by heart.“  Eine Predigt ist eine Liebeserklärung an die Gemeinde. So schutzlos, wie man sich bei einer Liebeserklärung zeigt, ist man auch bei einer Predigt. Und eine Liebeserklärung liest man auch nicht ab.

Wird die Volkskirche, wie wir sie kennen, überleben?
Das hoffe ich sehr. Denn das Herausragende an der Volkskirche ist, dass sie keine bestimmte Frömmigkeit einfordert. Volkskirche steht genau für das, was Jesus in der Begegnung mit Petrus vorgemacht hat: Den andern in seinem So-Sein und So-Glauben ernst nehmen und ermutigen und als Reichtum verstehen. Eine an eine bestimmte Frömmigkeit gebundene Kirche wäre mir zu eng. Es ginge so viel Glaubensreichtum verloren.

Aber der Mitgliederschwund ist doch erschreckend, oder?
Ehrlich gesagt bin ich eher verwundert darüber, dass noch so viele Menschen Kirchenglieder sind und ganz treu und verbindlich ihre Kirchensteuer entrichten.

Warum?
90% der Gemeindeglieder interessieren sich nicht für unsere Kirchen und Gottesdienste, für die Gemeindehäuser und kirchlichen Angebote. Sie sind aber der größte Teil der Kirchensteuerzahler! Die 27jährigen bilden z.B. den größten Anteil der Gemeindeglieder habe ich gerade erfahren. Doch wo kommt diese Altersgruppe in der kirchlichen Arbeit vor?  Ist doch erstaunlich, dass sie trotzdem (noch?) dabei sind.  Man kann die Frage also umdrehen: Was hält immer noch so viele Menschen in der Kirche? Und wie lange noch? In seinem Büchlein „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ schreibt der Autor Erik Flügge (Unternehmens- und Politikberater und katholischer Christ): „Wie lange kann eine Organisation überleben, wenn die meisten Mitglieder, die sie finanziell tragen, keinerlei Nutzen in ihrer Tätigkeit mehr erkennen?“ (S.10) Und er rät dringend dazu, den Kontakt zu den vielen Gemeindegliedern zu  suchen, statt die Gewohnheiten und Wünsche des inneren Zirkels zu bedienen. „Geht los!“ sagt  Jesus zu seinen Jüngern und schickt sie in die Dörfer und Städte ringsum.

Wollen Sie nun alle 4500 Gemeindeglieder besuchen?
Schaffe ich ja leider nicht. Aber ein Schwerpunkt könnte das schon werden. Mich interessieren die Lebens- und Glaubensgeschichten. Dazu müsste man sich erstmal kennenlernen. Neugierig bin ich auf die Leute um mich herum. Sobald die Corona-Lage dafür grünes Licht gibt, klingele ich an vielen Türen in der Gemeinde/den Gemeinden. Das habe ich mir ganz fest vorgenommen. Und sehr gerne lasse ich mich einlade, kann auch nur kurz sein, auf einen Kaffee oder Tee oder Keks. Wasser aus der Leitung ist auch gut.